Änderung von Steuerbescheiden wegen widerstreitender Steuerfestsetzungen nach § 174 AO

Erstellt von Sebastian Schulze, Geändert am Sa, 9 Aug um 10:31 VORMITTAGS von Sebastian Schulze

Änderung von Steuerbescheiden wegen widerstreitender Steuerfestsetzungen nach § 174 AO
§ 174 der Abgabenordnung (AO) regelt die Möglichkeit, Steuerbescheide zu ändern, wenn ein bestimmter Sachverhalt in unvereinbarer Weise steuerlich berücksichtigt oder nicht berücksichtigt wurde. Ziel dieser Vorschrift ist es, eine materielle Richtigkeit der Besteuerung sicherzustellen und zu verhindern, dass ein steuerlich relevanter Vorgang endgültig nicht oder mehrfach erfasst wird. § 174 AO ist auf alle Steuerfestsetzungen, einschließlich Feststellungsbescheide, anwendbar.
Die Vorschrift unterscheidet verschiedene Fallkonstellationen:
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1. Negativer Widerstreit (§ 174 Abs. 3 AO)
Ein negativer Widerstreit liegt vor, wenn ein bestimmter Sachverhalt in einem Steuerbescheid erkennbar nicht berücksichtigt wurde, weil die Finanzbehörde irrigerweise annahm, er sei in einem anderen Steuerbescheid zu berücksichtigen, und sich diese Annahme später als unrichtig herausstellt.
Voraussetzungen im Detail:
• Bestimmter Sachverhalt: Es muss sich um einen konkreten Lebensvorgang handeln, an den das Gesetz steuerliche Folgen knüpft. Dieser Sachverhalt darf tatsächlich in keinem der in Betracht kommenden Bescheide berücksichtigt worden sein, obwohl er in einem Bescheid hätte berücksichtigt werden müssen.
• Erkennbare Annahme der Finanzbehörde: Die Nichtberücksichtigung muss auf einer Annahme der Finanzbehörde (nicht des Steuerpflichtigen) beruhen, dass der Sachverhalt in einem anderen Bescheid zu erfassen sei. Diese Annahme muss für den Steuerpflichtigen erkennbar gewesen sein. Die Erkennbarkeit kann sich aus Vermerken im Steuerbescheid, der Steuererklärung (wenn die Finanzbehörde dies akzeptiert hat), Erörterungen im Rahmen des rechtlichen Gehörs, einem Betriebsprüfungsbericht oder der Kenntnis des Steuerpflichtigen aus einem anderen Steuerverfahren ergeben. Das Wissen eines steuerlichen Beraters wird dem Steuerpflichtigen zugerechnet.
• Kausalität der Annahme: Die Annahme der Finanzbehörde muss ursächlich für die Nichtberücksichtigung des Sachverhalts im Bescheid gewesen sein. Eine rein mechanische Übernahme einer fehlerhaften Steuererklärung genügt nicht. Wenn die Finanzbehörde keine Kenntnis von dem Sachverhalt hatte oder ihn als steuerlich irrelevant ansah, fehlt es an der Kausalität.
• Unrichtigkeit der Annahme: Die Annahme der Finanzbehörde muss sich später als falsch herausstellen, d.h., der Sachverhalt wurde auch im "anderen" Bescheid nicht berücksichtigt.
• Keine bloße falsche Rechtsanwendung: Allein falsche Rechtsanwendung ohne eine entsprechende Annahme über eine anderweitige Berücksichtigung ist kein Änderungsgrund.
Rechtsfolge: Die Steuerfestsetzung, bei der der Sachverhalt nicht berücksichtigt wurde, kann nachgeholt, aufgehoben oder geändert werden. Dies gilt zugunsten wie zuungunsten des Steuerpflichtigen. Der andere Bescheid kann denselben oder einen anderen Steuerpflichtigen betreffen, dieselbe oder eine andere Steuerart erfassen und für denselben oder einen anderen Besteuerungszeitraum ergehen.
Ermessen: Nach herrschender Meinung liegt kein Ermessen vor; die Behörde ist zur Änderung verpflichtet("muss").
Frist: Die Änderung ist nur bis zum Ablauf der Festsetzungsfrist derjenigen Steuerschuld zulässig, bei deren Festsetzung der Sachverhalt nach der zunächst geäußerten Auffassung hätte berücksichtigt werden sollen. Ein Antrag des Steuerpflichtigen auf Änderung des ersten Bescheids lässt die Festsetzungsfrist für diesen Bescheid bis zur Entscheidung über den Antrag nicht ablaufen.
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2. Folgeänderung aufgrund eines Rechtsbehelfs (§ 174 Abs. 4 AO)
Diese Vorschrift regelt den Fall, dass ein Steuerbescheid aufgrund einer irrigen Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts ergangen ist und dieser Bescheid auf Antrag oder Rechtsbehelf des Steuerpflichtigen zu seinen Gunsten aufgehoben oder geändert wurde. Hierdurch können die richtigen steuerlichen Folgerungen aus dem Sachverhalt in einem anderen Steuerbescheid gezogen werden.
Voraussetzungen im Detail:
• Bestimmter Sachverhalt: Wie bei Abs. 3, ist der "bestimmte Sachverhalt" der maßgebliche Lebensvorgang, an den das Gesetz steuerliche Folgen knüpft. Es muss sich um ein und denselben Lebensvorgang handeln.
• Irrige Beurteilung im Ausgangsbescheid: Der ursprüngliche Steuerbescheid muss objektiv unrichtig gewesen sein. Dies kann auf einem Tatsachen- oder Rechtsirrtum beruhen.
• Auslösendes Ereignis durch den Steuerpflichtigen: Die Aufhebung oder Änderung des fehlerhaften Bescheids muss auf einen Rechtsbehelf (Einspruch, Klage) oder einen Antrag des Steuerpflichtigen zurückzuführen sein. Eine aktive Mitwirkung und erzielte Übereinstimmung im Rahmen einer Betriebsprüfung kann als solcher "Antrag im weiteren Sinne" gewertet werden.
• Änderung zugunsten des Steuerpflichtigen: Die Änderung des ersten Bescheids muss zugunsten des Steuerpflichtigen erfolgt sein. Selbst wenn die Folgeänderung zu einer höheren Steuerlast führt, ist die ursprüngliche Änderung als "zugunsten" anzusehen, wenn sie der Rechtsansicht des Steuerpflichtigen entspricht.
• Folgeänderung als "richtige steuerliche Folgerung": Die nunmehr erforderliche steuerliche Behandlung in einem anderen Bescheid muss eine direkte und zwingende Konsequenz aus der Korrektur des Ausgangsbescheids sein.
Rechtsfolge: Es können die richtigen steuerlichen Folgerungen aus dem Sachverhalt durch Erlass, Aufhebung oder Änderung einer anderen Steuerfestsetzung gezogen werden.
Ermessen: Die Finanzbehörde ist zur Änderung verpflichtet, wenn die Voraussetzungen vorliegen; es handelt sich um eine gebundene Entscheidung.
Frist: Die Folgeänderung ist zulässig, wenn sie innerhalb eines Jahres nach der Aufhebung oder Änderung des fehlerhaften (ersten) Steuerbescheids erfolgt ist. Diese Jahresfrist beginnt mit der Bekanntgabe des geänderten oder aufgehobenen Bescheids. War die Festsetzungsfrist des zu ändernden Bescheids bereits abgelaufen, als der erste (später geänderte) Bescheid erlassen wurde, ist § 174 Abs. 4 AO Satz 4 anwendbar, wenn die Voraussetzungen des § 174 Abs. 3 Satz 1 AO erfüllt sind.
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3. Einbeziehung Dritter (§ 174 Abs. 5 AO)
§ 174 Abs. 5 AO bezieht sich auf die Änderungsmöglichkeit nach § 174 Abs. 4 AO, wenn die steuerlichen Folgen eines Sachverhalts nicht beim Antragsteller, sondern bei einem Dritten zu berücksichtigen sind.
Voraussetzung: Die richtigen steuerlichen Folgerungen können gegenüber einem Dritten nur gezogen werden, wenn dieser wirksam am Verfahren beteiligt war (z.B. durch Hinzuziehung oder Beiladung). Die Hinzuziehung oder Beiladung ist zulässig.
"Dritter": Ein Dritter ist jede Person, die in dem fehlerhaften Bescheid nicht als Steuerschuldner genannt war und nicht aus eigenem Recht am Steuerfestsetzungs- und Rechtsbehelfsverfahren beteiligt ist. Mitunternehmer einer Personengesellschaft sind nach der Rechtsprechung im Feststellungsverfahren in der Regel nicht als Dritte anzusehen, da sie materiell betroffen sind.
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Praktische Anwendung (am Beispiel von Rechts- und Beratungskosten)
Stellen Sie sich vor, ein Einzelunternehmen hat Rechts- und Beratungskosten als Betriebsausgaben deklariert, die später im Rahmen einer Betriebsprüfung als Sonderbetriebsausgaben einer Personengesellschaft, an der das Einzelunternehmen beteiligt ist, qualifiziert werden.
1. Ursprüngliche Situation: Die Kosten wurden in den Einkommensteuerbescheiden des Einzelunternehmens als Betriebsausgaben behandelt. In den Feststellungsbescheiden der Personengesellschaft waren sie zunächst nicht erfasst, da sie dort weder erklärt noch im Rahmen der Feststellung berücksichtigt wurden.
2. Betriebsprüfung als auslösendes Ereignis: Die Betriebsprüfung beim Einzelunternehmen stellt fest, dass die Kosten fälschlicherweise dem Einzelunternehmen zugeordnet wurden. Diese "irrige Beurteilung" wird korrigiert. Wenn der Steuerpflichtige der Korrektur aktiv mitwirkt und ihr zustimmt (z.B. in einer Schlussbesprechung), gilt dies als "Antrag" im Sinne des § 174 Abs. 4 AO. Obwohl die Korrektur im Einkommensteuerbescheid zu einer Steuererhöhung führen kann, wird sie prozessual als "zugunsten" des Steuerpflichtigen angesehen, da sie seiner materiell-rechtlich zutreffenden Auffassung entspricht.
3. Folgeänderung: Die Nichtanerkennung der Kosten im Einzelunternehmen macht deren Berücksichtigung als Sonderbetriebsausgaben im Feststellungsbescheid der Personengesellschaft zwingend erforderlich. Dies ist die "richtige steuerliche Folgerung".
4. Herausforderung des § 174 Abs. 3 AO: Ein direkter Änderungsantrag auf Grundlage des § 174 Abs. 3 AO für die Feststellungsbescheide könnte zunächst abgelehnt werden, wenn die Finanzbehörde zum Zeitpunkt des ursprünglichen Erlasses der Feststellungsbescheide keine Kenntnis von den Kosten hatte und somit keine "erkennbare Annahme" über eine anderweitige Berücksichtigung treffen konnte. Die Ablehnung des Finanzamtes stützt sich hier auf das Fehlen der Kausalität, da die Nichtberücksichtigung nicht auf einer irrtümlichen Alternativannahme beruhte, sondern auf Unkenntnis.
5. Anwendung des § 174 Abs. 4 AO als Lösung: In solchen Fällen ist der § 174 Abs. 4 AO die passendere Norm, da er auf die korrigierte "irrige Beurteilung" im Ausgangsbescheid abstellt und eine folgerichtige Anpassung in anderen Bescheiden ermöglicht.
6. Fristen und Bestandskraft: § 174 AO ermöglicht Änderungen trotz eingetretener Bestandskraft der betroffenen Bescheide, sofern die spezifischen Voraussetzungen und Fristen der jeweiligen Absätze eingehalten werden. Insbesondere ist die Jahresfrist des § 174 Abs. 4 Satz 3 AO zu beachten, die mit der Bekanntgabe des geänderten Ausgangsbescheids beginnt.
7. Nachweise: Für einen erfolgreichen Antrag sind eine präzise Chronologie der Ereignisse, der Betriebsprüfungsbericht, die geänderten Steuerbescheide und jeglicher Schriftverkehr, der die Mitwirkung des Steuerpflichtigen dokumentiert, unerlässlich.

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