umsatzsteuerlichen Qualifikation von Gesundheitsanwendungen

Erstellt von Sebastian Schulze, Geändert am Do, 10 Jul um 4:45 NACHMITTAGS von Sebastian Schulze

Umsatzsteuerliche Qualifikation von digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA)


I. Einführung: Digitale Gesundheitsanwendungen im Gesundheitssystem

Das Gesundheitswesen befindet sich in einem fortschreitenden Digitalisierungsprozess, in dem digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) eine immer wichtigere Rolle als „digitale Helfer“ in der Patientenversorgung einnehmen. Diese Anwendungen sind darauf ausgelegt, die Erkennung, Überwachung, Behandlung oder Linderung von Krankheiten sowie die Kompensation von Verletzungen oder Behinderungen zu unterstützen und somit zur Gesundheitsförderung beizutragen. Ihre Bedeutung wurde durch das Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) maßgeblich gestärkt, welches einen gesetzlichen Anspruch auf die Versorgung mit DiGA in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) geschaffen hat.

Eine zentrale Fragestellung für Hersteller solcher Anwendungen ist, ob die von ihnen erbrachten Leistungen als umsatzsteuerfreie Heilbehandlungen qualifiziert werden können.


II. Rechtlicher Rahmen der Umsatzsteuerbefreiung im Gesundheitswesen


Die Umsatzsteuerbefreiung für medizinische Leistungen in Deutschland basiert hauptsächlich auf § 4 Nr. 14 des Umsatzsteuergesetzes (UStG), der wiederum auf Art. 132 Abs. 1 der Mehrwertsteuersystemrichtlinie (MwStSystRL) der Europäischen Union beruht.

Die Steuerbefreiung betrifft:

  • Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin, die im Rahmen der Ausübung der Tätigkeit als Arzt, Zahnarzt, Heilpraktiker, Physiotherapeut, Hebamme oder einer ähnlichen heilberuflichen Tätigkeit durchgeführt werden.
  • Krankenhausbehandlungen und ärztliche Heilbehandlungen in bestimmten Einrichtungen (§ 4 Nr. 14 Buchst. b UStG).
  • Seit dem 1. Januar 2021 auch Leistungen zur Förderung des öffentlichen Gesundheitswesens (§ 4 Nr. 14 Buchst. f UStG).

A. Kernkriterien für die Umsatzsteuerbefreiung:

  1. Therapeutische Zweckbestimmung: Die Leistungen müssen der Diagnose, Behandlung und, soweit möglich, der Heilung von Krankheiten oder Gesundheitsstörungen dienen. Leistungen, die lediglich der Steigerung des allgemeinen Gesundheitszustandes dienen und keinen konkreten Krankheitsbezug aufweisen, sind umsatzsteuerpflichtig. Auch vorbeugende Untersuchungen oder Maßnahmen können dazu gehören, wenn sie kausal einer bestimmten Krankheit zugeordnet werden können (z.B. Schutzimpfungen). Die therapeutische Zweckbestimmung muss auf konkreten medizinischen Feststellungen beruhen, die von entsprechendem Fachpersonal getroffen wurden.
  2. Qualifiziertes Personal: Die Leistungen müssen von Personen erbracht werden, die über die erforderlichen beruflichen Qualifikationen verfügen. Die Rechtsform des leistenden Unternehmens ist dabei unerheblich; es kommt darauf an, dass persönlich befähigtes Personal die wichtigen Arbeitsschritte der Untersuchung und Befundung vornimmt.
  3. Unionsrechtliche Auslegung: Die Steuerbefreiungen sind zwar eng auszulegen, dürfen den Befreiungen aber nicht ihre Wirkung nehmen. Ihr Zweck ist es, die Kosten von Heilbehandlungen zu senken und diese für den Einzelnen leichter zugänglich zu machen. Der Grundsatz der steuerlichen Neutralität verlangt, dass gleichartige Leistungen umsatzsteuerlich nicht unterschiedlich behandelt werden dürfen. Steuerpflichtige können sich direkt auf die Bestimmungen der MwStSystRL berufen. Auch telefonisch oder digital erbrachte Heilbehandlungen können steuerbefreit sein, wenn sie alle Voraussetzungen erfüllen, insbesondere einen therapeutischen Zweck verfolgen.
  4. Kostenübernahme durch Sozialversicherungsträger: Die Finanzierung einer Heilbehandlung durch Sozialversicherungsträger kann ein Indiz für die ausreichende Qualifikation des Leistungserbringers und den therapeutischen Zweck sein. Eine Ablehnung der Kostenerstattung durch die Krankenkasse führt jedoch nicht zwingend zur Umsatzsteuerpflicht, da sozialrechtliche und umsatzsteuerrechtliche Beurteilungen getrennt voneinander erfolgen.


III. Charakterisierung von digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA)


DiGA sind Softwareanwendungen, die auf digitalen Technologien beruhen und dazu bestimmt sind, Patienten bei der selbstständigen Erkennung, Überwachung, Behandlung, Linderung und/oder Kompensation ihrer Erkrankung zu unterstützen. Sie können von Ärzten und Psychotherapeuten verordnet und durch die gesetzlichen Krankenkassen erstattet werden.

Die Aufnahme einer DiGA in das Verzeichnis des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) erfolgt nach einem strengen Prüfverfahren. Dieses Verfahren umfasst die Bewertung von:

  • Sicherheit und Funktionstauglichkeit.
  • Datenschutz und Informationssicherheit (oft TÜV-zertifiziert, ISO 27001 auditiert, Datenverarbeitung in Deutschland).
  • Qualität (insbesondere Interoperabilität).
  • Nachweis positiver Versorgungseffekte. Ein positiver Versorgungseffekt kann ein medizinischer Nutzen (therapeutische Verbesserung) oder eine patientenrelevante Struktur- und Verfahrensverbesserung sein.

Die offizielle Anerkennung durch das BfArM als Medizinprodukt mit nachgewiesenem medizinischem Nutzen ist ein gewichtiges Argument für den therapeutischen Charakter der Leistung.


IV. Analyse der Umsatzsteuerfreiheit für DiGA: Pro- und Kontra-Argumente


A. Pro-Argumente (für die Umsatzsteuerfreiheit):

  • Erfüllung des therapeutischen Ziels: DiGA verfolgen ein klares therapeutisches Ziel, z.B. die Linderung spezifischer Symptome wie leichter kognitiver Beeinträchtigungen (ICD-10 F06.7).
  • Medizinprodukt-Status und BfArM-Zulassung: Die CE-Zertifizierung und die Listung im BfArM-Verzeichnis bestätigen den medizinischen Charakter und die therapeutische Wirksamkeit der Anwendung. Dies unterscheidet sie grundlegend von allgemeinen Wellness-Apps.
  • Volle Kostenerstattung durch Krankenkassen: Die vollständige Kostenübernahme durch die gesetzlichen Krankenkassen und die Integration in das etablierte Verschreibungs- und Abrechnungssystem (z.B. PZN) sind starke Indikatoren dafür, dass die Anwendung als integraler Bestandteil des Gesundheitssystems behandelt wird.
  • Indirekte Einbindung von Heilberuflern: Obwohl DiGA oft keine kontinuierliche, direkte Beteiligung eines Heilberuflers während der Nutzung erfordern, ist die Leistung des Herstellers untrennbar mit der Tätigkeit eines Heilberuflers verbunden. Ärzte oder Psychotherapeuten verordnen die DiGA, klären Patienten auf und führen Follow-ups durch. Die DiGA ist somit ein Instrument, das von einem qualifizierten Heilberufler in den Behandlungsprozess integriert wird.
  • Unionsrechtliche Vorgaben zur weiten Auslegung: Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur weiten Auslegung des Begriffs „Heilbehandlung“ und die Irrelevanz des Ortes oder Mediums der Leistungserbringung sind entscheidend. Die digitale Erbringung der Leistung schließt die Qualifikation als Heilbehandlung nicht aus.
  • Förderung des öffentlichen Gesundheitswesens: DiGA tragen durch die Linderung von Beeinträchtigungen und die Verbesserung der Lebensqualität maßgeblich zur Stärkung der öffentlichen Gesundheit bei.


B. Kontra-Argumente (potenzielle Argumente der Finanzverwaltung):

  • Fehlende direkte Leistungserbringung durch einen klassischen „Heilberufler“: Das leistende Unternehmen ist eine juristische Person (z.B. GmbH) und nicht eine natürliche Person, die als Arzt oder Psychotherapeut qualifiziert ist. Die Finanzverwaltung könnte argumentieren, dass die Befreiung eng an die persönliche Leistungserbringung durch eine qualifizierte Fachkraft gebunden ist. Eine Angabe im DiGA-Verzeichnis, dass keine „Erforderlichkeit vertragsärztlicher Tätigkeiten oder Tätigkeiten von Heilmittelerbringern oder Hebammen in Zusammenhang mit der Nutzung der DiGA“ besteht, könnte als Beleg dafür herangezogen werden, dass die App selbst und nicht der Heilberufler die eigentliche „Heilbehandlung“ durchführt.
  • Abgrenzungsprobleme: Es besteht die potenzielle Gleichsetzung mit reinen Softwarelieferungen, Wellness-Apps oder nicht-therapeutischen Inhalten. Die Bereitstellung einer Software-Anwendung könnte als primär technische Dienstleistung eingeordnet werden.
  • Restriktive nationale Auslegung: Die Finanzverwaltung neigt historisch zu einer restriktiveren Auslegung von Befreiungsvorschriften als der EuGH.


V. Alternative umsatzsteuerliche Beurteilungen


Sollten die Voraussetzungen für eine Umsatzsteuerbefreiung als Heilbehandlung nicht erfüllt sein, könnten folgende alternative Beurteilungen in Betracht kommen:

  • Ermäßigter Steuersatz (§ 12 Abs. 2 Nr. 14 UStG): Falls die DiGA vorwiegend schriftliche Erläuterungen umfasst (z.B. Wissen über ein Krankheitsbild ohne die Voraussetzungen einer Heilbehandlung zu erfüllen) und somit eher als digitales Medium (ähnlich einem Buch) qualifiziert wird, könnte ein ermäßigter Steuersatz zur Anwendung kommen. Dies gilt jedoch nicht, wenn die Inhalte überwiegend aus Video- oder Audio-Material bestehen oder die Funktionen der App deutlich über die eines Buches hinausgehen.


VI. Nachweise und Dokumentation


Die Beweislast für das Vorliegen einer Heilbehandlung als tatsächliche Voraussetzung der Steuerbefreiung trägt derjenige, der sich auf die Befreiung beruft. Bei Zweifeln ist es Aufgabe des Steuerpflichtigen, die medizinische Indikation nachprüfbar einzelfallbezogen zu dokumentieren und Abrechnungen mit Leistungsbeschreibung sowie ggf. weitere Unterlagen vorzuhalten. Die Zweckbestimmung einer medizinischen Maßnahme muss auch für einen medizinischen Laien verständlich sein. In Zweifelsfällen kann der Nachweis durch ein Sachverständigengutachten eines externen Dritten erforderlich sein.


VII. Fazit und Handlungsempfehlungen


Die umsatzsteuerliche Beurteilung digitaler Gesundheitsanwendungen als steuerfreie Leistung ist komplex, aber die Argumente für eine Befreiung überwiegen, insbesondere unter Berücksichtigung der unionsrechtlichen Vorgaben. Die Einstufung als DiGA durch das BfArM, die nachgewiesenen positiven Versorgungseffekte und die vollständige Erstattungsfähigkeit durch die gesetzlichen Krankenkassen sind entscheidende Indikatoren für den medizinischen und therapeutischen Charakter der Leistung.

Die Erfolgsaussichten, die Umsatzsteuerfreiheit für DiGA durchzusetzen, sind als gut zu bewerten, insbesondere bei einer proaktiven und fundierten Argumentationsstrategie gegenüber der Finanzverwaltung.

Konkrete Handlungsempfehlungen für Anbieter von DiGA:

  • Sicherstellung einer lückenlosen Dokumentation aller Aspekte der DiGA-Zulassung, der nachgewiesenen positiven Versorgungseffekte und der Integration in den Behandlungspfad (ärztliche Verordnung, Follow-ups).
  • Ausarbeitung einer detaillierten Argumentationsschrift, die die Pro-Argumente strukturiert darlegt und die unionsrechtliche Komponente sowie die einschlägige Rechtsprechung hervorhebt.
  • Es wird dringend empfohlen, eine verbindliche Auskunft bei der zuständigen Finanzverwaltung zu beantragen. Dies bietet die größte Rechtssicherheit und kann zukünftige Betriebsprüfungen erleichtern.
  • In der Kommunikation sollte der Fokus auf dem medizinischen Zweck der Anwendung, ihrer staatlichen Anerkennung als Medizinprodukt und ihrer Integration in die GKV-Versorgung liegen. Es ist wichtig, DiGA klar von nicht-medizinischen Softwareprodukten abzugrenzen.
  • Die notwendige Einbindung des Arztes oder Psychotherapeuten (Verordnung, Aufklärung, Begleitung, Follow-up) als entscheidendes Bindeglied zur heilberuflichen Tätigkeit muss betont werden, auch wenn die direkte Interaktion während der App-Nutzung automatisiert erfolgt. Die DiGA ist ein Hilfsmittel in der Hand des Heilberuflers.
  • Kontinuierliche Beobachtung der Rechtsentwicklung zu digitalen Gesundheitsleistungen, insbesondere Veröffentlichungen des Bundesfinanzministeriums (BMF) und die Rechtsprechung des BFH und EuGH.


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